Bitkom warnt: Deutsche IT hängt am Tropf ausländischer Anbieter
Die Zahlen sind ernüchternd: Laut Bitkom-Studie sehen sich neun von zehn Firmen von Importen abhängig, mehr als die Hälfte könnte ohne Hardware, Software und Cloud-Services aus dem Ausland höchstens ein Jahr weiterarbeiten. Deutsche Unternehmen hängen am Tropf ausländischer Anbieter, vor allem aus den USA, China und Taiwan. Zugleich erodiert das Vertrauen, während Forderungen nach mehr digitaler Eigenständigkeit lauter werden.
Hardware aus China, Cloud- und KI-Plattformen aus den USA, Chips aus Taiwan, Industrieroboter aus Südkorea – die Lieferketten für digitale Technologien bleiben für deutsche Unternehmen klar international geprägt. Eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom unter mehr als 600 Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden zeichnet ein deutliches Bild der Abhängigkeit und rückt die Frage nach europäischer digitaler Souveränität erneut ins Zentrum.
Dr. Ralf Wintergerst, BitkomDemnach importieren 96 Prozent der Unternehmen digitale Technologien oder Services aus dem Ausland. 89 Prozent dieser Firmen stufen sich selbst als abhängig ein, gut die Hälfte davon sogar als stark abhängig. Nur elf Prozent sehen keine oder kaum Abhängigkeit. Noch kritischer fällt der Blick auf das eigene Überleben im Krisenfall aus. 57 Prozent der Befragten geben an, ohne digitale Importe höchstens zwölf Monate wirtschaftlich durchhalten zu können. Lediglich eine kleine Minderheit von vier Prozent hält sich auch dauerhaft für überlebensfähig, wenn die Zuflüsse von Hardware, Software und Services aus wichtigen Partnerländern versiegen würden.
»Deutschland und Europa müssen sich aus einseitigen Abhängigkeiten befreien und ihre digitale Zukunft selbst in die Hand nehmen«, fordert Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst. »Europa muss seine digitale Souveränität mit mehr Entschlossenheit entwickeln. Wir müssen Europa zu einem Ort machen, an dem digitale Technologien nicht nur genutzt, sondern auch entwickelt und in wettbewerbsfähige Produkte und Dienstleistungen übersetzt werden.«
Hohe Abhängigkeit von USA und China
Besonders ausgeprägt ist die Bindung an die beiden großen Technologieblöcke USA und China. 51 Prozent der Unternehmen stufen ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten als stark ein, ebenso viele sehen sich stark von China abhängig. Beide Werte sind im Vergleich zum Jahresbeginn noch einmal gestiegen. Bitkom verweist darauf, dass sich die einseitigen technologischen Verflechtungen in kurzer Zeit weiter verfestigt haben – trotz der anhaltenden politischen Debatten über Diversifizierung und »De-Risking«.
Diese Abhängigkeit hat mehrere Ebenen. Bei Endgeräten wie Smartphones, Notebooks oder Workstations greift nahezu die gesamte Wirtschaft auf Importe zurück. Laut Bitkom beziehen 93 Prozent der Unternehmen ihre Geräte aus dem Ausland. Bei digitalen Bauteilen und Hardware-Komponenten wie Chips, Halbleitern und Sensoren liegt der Anteil bei rund drei Vierteln, bei Software-Applikationen bei gut 70 Prozent. Selbst im Bereich Cybersicherheit verlassen sich zwei Drittel der Firmen auf Produkte aus dem Ausland. Produktionsnahe digitale Maschinen und Anlagen sowie Dienstleistungen wie Software-Entwicklung oder IT-Beratung werden ebenfalls häufig außerhalb Deutschlands eingekauft.
Entwicklungsprognosen zur Abhängigkeit: uneinheitlich
Auf der Makroebene schätzen die Unternehmen die Lage Deutschlands ähnlich kritisch ein. 93 Prozent sehen das Land insgesamt technologisch stark oder eher abhängig von digitalen Technologien und Leistungen aus dem Ausland. Nur zehn Prozent erwarten, dass sich diese Abhängigkeit in den kommenden fünf Jahren verringern wird. Ein Viertel rechnet unverändert mit dem heutigen Status quo, fast zwei Drittel gehen davon aus, dass die Abhängigkeit sogar weiter zunimmt. Die Umfrage bestätigt damit den Eindruck, dass politische Initiativen für mehr digitale Souveränität bisher kaum in der Unternehmensrealität angekommen sind.
Parallel dazu schwindet das Vertrauen in zentrale Partnerländer. Bitkom berichtet vor allem von einer wachsenden Skepsis gegenüber den USA. Hintergrund sind neben geopolitischen Spannungen auch rechtliche Rahmenbedingungen wie der US Cloud Act sowie wiederkehrende Diskussionen um Datenschutz und Zugriffsmöglichkeiten staatlicher Stellen auf Daten in ausländischen Cloud-Infrastrukturen. Bei China kommen Bedenken hinsichtlich politischer Einflussnahme, Exportkontrollen und möglicher Lieferunterbrechungen hinzu. Unternehmen stehen damit vor der Aufgabe, Geschäftsmodelle und IT-Architekturen so zu gestalten, dass sie trotz dieser Unsicherheiten funktionsfähig bleiben.
Für Unternehmen in Deutschland bedeutet das Thema digitale Souveränität damit nicht nur eine politische Debatte, sondern eine sehr konkrete Risiko- und Strategiediskussion. Wer heute seine digitalen Lieferketten analysiert, stößt schnell auf Knotenpunkte in wenigen Ländern und bei wenigen Hyperscalern oder Hardware-Herstellern. Die Bitkom-Zahlen zeigen, dass ein kurzfristiger Ausfall dieser Quellen für viele Firmen existenzbedrohend wäre. Aus Sicht von IT-Verantwortlichen rücken deshalb Maßnahmen wie Multi-Sourcing-Strategien, stärkere Nutzung europäischer Cloud- und Plattform-Angebote, Investitionen in eigene Kernkompetenzen sowie der Aufbau robusterer hybrider Architekturen aus Rechenzentrum und Cloud in den Fokus.
USA und China dominieren die Digitalimporte
Im Detail zeigt die Bitkom-Befragung, wie stark sich die digitale Wertschöpfung auf wenige Herkunftsländer konzentriert. Die USA und China sind die wichtigsten Bezugsquellen für digitale Technologien und Services. 67 Prozent der befragten Unternehmen importieren häufig aus den USA, weitere 23 Prozent in Einzelfällen. Damit zählen die Vereinigten Staaten für 9 von 10 Firmen, die Digitalimporte nutzen, zu den Handelspartnern. China spielt eine ähnlich dominante Rolle: 58 Prozent der Unternehmen beziehen häufig digitale Güter von dort, 25 Prozent gelegentlich. In der Praxis bedeutet dies, dass zentrale Bausteine vieler IT- und Produktionsumgebungen von genau diesen beiden Märkten abhängen.
Taiwan als geopolitisches Risiko
Eine besondere Rolle nimmt Taiwan ein. 21 Prozent der Unternehmen importieren häufig, 24 Prozent in Einzelfällen digitale Technologien und Leistungen von der Insel. Fast jede zweite Firma, die Digitalimporte nutzt, stuft sich im Hinblick auf Taiwan als abhängig ein, 26 Prozent sogar als stark abhängig und 23 Prozent als eher abhängig. Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst bringt die Situation zugespitzt auf den Punkt: »Die deutsche Wirtschaft ist vergleichsweise stark von Taiwan abhängig, da Schlüsselindustrien wie die Automobil- und Elektronikbranche auf dort produzierte Hochleistungs-Chips angewiesen sind. Chinas Aggressionen gegen Taiwan bedrohen deshalb direkt die Lieferketten und Produktionskapazitäten in Deutschland.« Für viele industrielle Kernbranchen ergibt sich daraus eine starke Konzentration kritischer Halbleiter-Lieferketten auf Taiwan – mit entsprechenden Risiken im Falle politischer Eskalationen.
Breitere, aber begrenzte Diversifizierung über Japan, EU und UK
Neben diesen Schlüsselmärkten verteilt sich die Importbasis auf weitere Länder und Regionen. Japan ist für zwölf Prozent der Unternehmen ein häufiger und für 31 Prozent ein gelegentlicher Lieferant digitaler Technologien. Frankreich, Mitveranstalter des Gipfels in Berlin, spielt ebenfalls eine spürbare Rolle. Zehn Prozent der Unternehmen beziehen häufig digitale Technologien und Services aus dem Nachbarland, weitere 20 Prozent zumindest in Einzelfällen. Vergleichbare Werte ergeben sich für die übrige EU mit 16 Prozent häufigen und 28 Prozent gelegentlichen Importen sowie für das Vereinigte Königreich mit elf bzw. 19 Prozent. Russland spielt dagegen faktisch keine Rolle mehr. Nur ein Prozent der befragten Unternehmen nennt die Russische Föderation als Handelspartner für digitale Technologien.
Digitale Souveränität als Frage der Handlungsfähigkeit
Aus Sicht von Bitkom ist digitale Souveränität kein Plädoyer für technologische Abschottung, sondern eine Frage der strategischen Handlungsfähigkeit. Wintergerst definiert sie so: »Digital souverän ist ein Land, das eigene substanzielle Fähigkeiten in digitalen Schlüsseltechnologien besitzt und selbstbestimmt darüber entscheiden kann, aus welchen Ländern es digitale Technologien bezieht.« Vor diesem Hintergrund fordert er, die deutsche Wirtschaft müsse sich aus einseitigen Abhängigkeiten lösen und in der Lage sein, adäquat zu reagieren, wenn Lieferländer Druck ausüben oder Rahmenbedingungen abrupt verändern.
Vertrauensranking: Europa vorne, USA und China abgeschlagen
Interessant ist die Diskrepanz zwischen den realen Importströmen und dem Vertrauensniveau in die jeweiligen Partnerländer. Das höchste Vertrauen genießen Frankreich, Japan und die übrigen EU-Staaten. 76 Prozent der Unternehmen äußern Vertrauen in Frankreich, 72 Prozent in Japan und 68 Prozent in andere EU-Länder. Dahinter folgen das Vereinigte Königreich mit 58 Prozent, Indien mit 45 Prozent und Südkorea mit 40 Prozent. Gleichzeitig geben 58 Prozent an, Südkorea gegenüber nur wenig oder kein Vertrauen zu haben, bei Indien sind es 53 Prozent.
Die hinteren Plätze im Vertrauensranking belegen ausgerechnet die beiden Länder, von denen deutsche Unternehmen am meisten abhängig sind. In die USA haben nur noch 38 Prozent Vertrauen, im Januar waren es noch 51 Prozent. 60 Prozent vertrauen den Vereinigten Staaten wenig oder gar nicht. China liegt noch einmal darunter: 70 Prozent der Befragten bringen dem Land wenig oder kein Vertrauen entgegen, nur 26 Prozent äußern Vertrauen. Die wirtschaftliche Realität der Lieferketten und die politische Vertrauenslage klaffen damit deutlich auseinander.
Politische Unsicherheit in den USA verschärft die Lage
Messbar ist auch der Einfluss der politischen Entwicklungen in den USA. Der Vertrauensverlust wird von vielen Unternehmen direkt mit der der neuen US-Regierung in Verbindung gebracht, die seit Januar 2025 im Amt ist. Ein Drittel der Befragten (33 Prozent) berichtet von sehr negativen direkten oder indirekten Auswirkungen auf das eigene Unternehmen, weitere 46 Prozent von eher negativen Effekten. Für 19 Prozent haben sich bislang keine spürbaren Veränderungen ergeben, ein positives Bild zeichnet keine einzige Firma. Gleichwohl bleibt der Blick auf die USA ambivalent. Betrachtet man nicht das eigene Unternehmen, sondern Deutschland insgesamt, bewerten 52 Prozent die Vereinigten Staaten weiterhin als verlässlichen Partner.
Breiter Rückhalt in der Bevölkerung für mehr Unabhängigkeit
Wie stark das Thema digitale Abhängigkeiten auch in der Bevölkerung verankert ist, zeigt eine weitere Bitkom-Studie. 44 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger halten Deutschland für sehr abhängig von digitalen Technologieimporten, 50 Prozent für eher abhängig. Praktisch Einigkeit besteht bei der Frage nach der Notwendigkeit größerer Unabhängigkeit. 98 Prozent halten es für wichtig, dass Deutschland bei zentralen digitalen Technologien eigenständiger wird. Wintergerst kommentiert dies mit den Worten: »Die Menschen in Deutschland haben den Ernst der Lage verstanden: Fast alle wünschen sich mehr Unabhängigkeit bei digitalen Schlüsseltechnologien. Das Vertrauen in Partner wie die USA oder China hat zuletzt stark gelitten. Die Stärkung unserer digitalen Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit gehört in den kommenden drei Jahren der Legislaturperiode ganz oben auf die Agenda.«
Ökonomische Risiken überlagern digitale Einzelrisiken
Aus Sicht der Unternehmen ist der Blick über den Atlantik derzeit vor allem von Risiken geprägt. 99 Prozent sehen weitere finanzielle Belastungen durch Strafzölle oder Sanktionen als Risiko für ihr Geschäft. 56 Prozent fürchten neue Exportbeschränkungen, 49 Prozent einen möglichen Austritt der USA aus internationalen Organisationen wie der NATO oder der WTO. Bemerkenswert ist, dass ökonomische Risiken höher gewichtet werden als rein digitale Risiken. Ein Verlust des Zugangs zu Software- und Plattformdiensten wird von 49 Prozent als Gefahr gesehen. 41 Prozent sorgen sich vor einem erzwungenen Abfluss sensibler Unternehmensdaten an US-Behörden, 37 Prozent vor einem erschwerten Zugang zu Technologien wie Chips oder KI-Systemen. Einschränkungen bei Cloud-Services stufen dagegen nur 14 Prozent als relevantes Risiko ein. Aus Unternehmenssicht wiegt die Gefahr verschlechterter Markt- und Handelsbedingungen insgesamt schwerer als die drohende Abhängigkeit von einzelnen Digital-Services.
Große Erwartungen an den Souveränitäts-Gipfel
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Gipfel für europäische digitale Souveränität in der Wirtschaft auf breiten Zuspruch stößt. 86 Prozent der Unternehmen begrüßen das Treffen ausdrücklich. 92 Prozent sind der Meinung, Deutschland und Frankreich sollten bei der Stärkung der digitalen Souveränität Europas eine Führungsrolle übernehmen. 82 Prozent sehen in einer engen deutsch-französischen Zusammenarbeit im Digitalbereich einen Hebel, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt zu stärken. Konkrete Erwartungen richten sich vor allem an die Politik. 94 Prozent der Unternehmen fordern verstärkte Investitionen in digitale Schlüsseltechnologien, 62 Prozent plädieren für den Aufbau europäischer Hyperscaler, also großer Cloud-Anbieter in europäischer Hand. Wintergerst formuliert die Grundbedingung für diese Entwicklung so: »Nur wer über eigene Kompetenzen verfügt, kann international auf Augenhöhe agieren – und dafür muss Deutschland seine Position gezielt stärken.«
Handlungsfelder: Cloud, Rechenzentren, KI und Chips
Bitkom nennt in diesem Zusammenhang mehrere zentrale Handlungsfelder. An erster Stelle stehen der Ausbau einer leistungsfähigen Cloud- und Rechenzentrums-Infrastruktur in Deutschland und Europa sowie der Aufbau eigener Fähigkeiten in Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz, Quantum-Computing, Industrial Metaverse und IT-Sicherheit. Hinzu kommt das Ziel, Deutschland zu einem wichtigen Standort der Chip-Fertigung zu entwickeln, um die Abhängigkeit von asiatischen Produktionsstandorten zu verringern. Nationale Initiativen sollen eng mit EU-Programmen verzahnt werden. Dabei geht es aus Verbandssicht weniger darum, im internationalen Subventionswettbewerb mitzuhalten, sondern verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, Fachkräfte auszubilden und Verwaltungsprozesse so zu beschleunigen, dass Investitionen nicht ausgebremst werden.
EUDI-Wallet als Baustein der digitalen Souveränität
Als weiterer Baustein zur Stärkung der digitalen Souveränität wird die European Digital Identity Wallet gesehen. Die Einführung der EUDI-Wallet soll Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen ermöglichen, Identitätsdaten und digitale Nachweise sicher, selbstbestimmt und grenzüberschreitend zu verwalten. Bitkom wertet die Wallet als zentrales Instrument, um Abhängigkeiten von proprietären Identitäts-Ökosystemen großer internationaler Plattform-Anbieter zu reduzieren. Auf dem Gipfel am 18. November werden erste Implementierungen vorgestellt. Nach Angaben von Bitkom haben mehr als 60 Unternehmen in einer Absichtserklärung zugesagt, Anwendungen für die EUDI-Wallet zu entwickeln und bereitzustellen.
Fazit: Digitale Lieferketten strategisch neu denken
In der Summe zeigt die Bitkom-Studie, wie eng geopolitische Risiken, wirtschaftliche Interessen und technologische Souveränität miteinander verknüpft sind. Für die Unternehmenspraxis bedeutet dies, digitale Lieferketten systematisch zu analysieren, einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und dort, wo dies möglich ist, europäische Alternativen aufzubauen. Für die Politik geht es darum, die Bereitschaft der Wirtschaft zu mehr Diversifizierung mit verlässlichen Rahmenbedingungen, Investitionsanreizen und einer effizienten Digital-Verwaltung zu hinterlegen. Die Politik ist nun aufgerufen, aus den Befunden der Bitkom-Studien konkrete Projekte, Programme und Infrastrukturen entstehen, die Europa in Richtung digitaler Souveränität tatsächlich voranbringen.